Nelsons Beweis der
Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie


Im Zentrum der Erkenntnistheorie steht die Frage nach einem Beweis für die Wahrheit von Erkenntnissen. Leonard Nelson gibt Gründe an, wieso es einen solchen Beweis nicht geben kann. Seine Argumente sind Gegenstand des vorliegenden Beitrages. Deshalb sollen zunächst Nelsons Definitionen für Begriffe wie Beweis, Erkenntnis und Wahrheit wiedergegeben werden

Beweis: Ableitung der Wahrheit eines Satzes aus der Wahrheit anderer Sätze

Deduktion:

B) Jede Veränderung hat eine Ursache.

Bī) B ist die Wiedergabe einer unmittelbaren Erkenntnis.

Bī lässt sich beweisen. Der Beweis von Bī ist die Deduktion von B.

Unter unmittelbaren Erkenntnissen versteht Nelson nicht-urteilsmäßige Erkenntnisse. Dazu zählen Anschauungen (z.B. das-rote-Dach-sehen), aber auch philosophische Erkenntnisse, die - ohne eine sprachliche Form zu besitzen - Bestandteile unserer Vernunft sind (z.B. Kausalitätsgrundsatz). Mittelbare Erkenntnisse sind urteilsmäßige Erkenntnisse: "Ich sehe das rote Dach." oder "Jede Veränderung hat eine Ursache."

Nelson unterscheidet zwischen Vernunft- und Verstandeswahrheit:

Zur Unterscheidung zwischen wahren und nicht wahren Erkenntnissen benötigt man ein Kriterium. Dieses bezeichnet Nelson als erkenntnistheoretisches Kriterium. Sein Beweis der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie zeigt die Widersprüchlichkeit eines solchen Kriteriums. Das erkenntnistheoretische Kriterium ist nämlich entweder selbst eine Erkenntnis oder nicht. Wäre es eine Erkenntnis, hätte es über seine eigene Wahrheit zu entscheiden. Man stößt auf einen Widerspruch. Nimmt man dagegen an, dass das Kriterium keine Erkenntnis ist, müsste man zumindest begründen können, warum es sich um ein Wahrheitskriterium handelt. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn das Kriterium selbst zum Gegenstand einer Erkenntnis gemacht werden kann. Um über die Wahrheit dieser Erkenntnis entscheiden zu können, hätte man das Kriterium bereits anzuwenden. Es ergibt sich ebenfalls ein Zirkel.

Daraus schließt Nelson, dass es kein erkenntnistheoretisches Kriterium und somit auch keine Erkenntnistheorie geben kann. Dieser Unmöglichkeitsbeweis ist Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen. Er wäre widerlegt, wenn man zeigen könnte, dass der beschriebene Zirkel vermeidbar ist. Diesen Versuch unternimmt beispielsweise H.A. Schmidt1 mit einer gestuften Lösung des Erkenntnisproblems. Schmidt definiert: M-Erkenntnis (Erkenntnis, die noch nicht mit der Frage nach der objektiven Gültigkeit konfrontiert wurde), G-Erkenntnis (objektiv gültige Erkenntnis), G-Sein (objektive Gültigkeit).

Man betrachtet zunächst eine Teilklasse N1 von M-Erkenntnissen. Für N1 wird eine kritische Eigenschaft K1 angegeben, die dem G-Sein äquivalent ist. Nun sucht man eine Teilklasse N2 von M-Erkenntnissen, die erstens die M-Erkenntnis der Äquivalenz von K1 mit dem G-Sein innerhalb N1 enthält und für die sich zweitens eine kritische Eigenschaft K2 (G-Sein innerhalb N2) angeben lässt. Dieses Verfahren kann beliebig fortgesetzt werden. Es wird schnell klar, dass das Problem der Begründung von Wahrheit nicht gelöst wird, sondern sich auf jeder Stufe neu stellt.

Gleich welcher Art eine Wahrheitstheorie ist - ob Evidenztheorie, Konsenstheorie, Kohärenztheorie oder pragmatische Wahrheitstheorie -, sie scheint sich stets in einen Zirkel zu verstricken. Hierzu schreibt Nelson:

Es möge etwa jemand behaupten, die Übereinstimmung der denkenden Subjekte untereinander sei das gesuchte erkenntnistheoretische Kriterium. Um dieses Kriterium anwenden zu können, müßten wir wissen, daß die Übereinstimmung verschiedener Subjekte ein Kriterium der Wahrheit ihrer Erkenntnis ist. Um aber zu diesem Wissen zu gelangen, müßten wir auf die Annahme, die Übereinstimmung sei das fragliche Kriterium, dieses Kriterium selbst schon anwenden. Wir müßten uns überzeugen, daß alle Subjekte in der Behauptung übereinstimmen, daß die Übereinstimmung ein Kriterium der Wahrheit ihrer Behauptungen sei. Um aber daraus die Wahrheit dieser Annahme einsehen zu können, müßten wir schon voraussetzen, daß sie richtig ist, d. h. daß die Übereinstimmung ein erkenntnistheoretisches Kriterium ist. Die Möglichkeit, zu diesem Wissen zu gelangen, schlösse also einen inneren Widerspruch ein.

Oder es behaupte jemand, die Evidenz sei das fragliche Kriterium. Dieses Kriterium müßte, um anwendbar zu sein, uns als solches bekannt sein, d. h. wir müßten wissen, daß die evidenten Erkenntnisse die wahren sind. Wir könnten dieses aber nur dadurch wissen, daß es evident wäre, daß die evidenten Erkenntnisse wahr sind; um aber aus der Evidenz dieser Annahme auf ihre Wahrheit zu schließen, müßten wir schon voraussetzen, daß die Evidenz ein Kriterium der Wahrheit ist. Es ist also unmöglich, zu dem fraglichen Wissen zu gelangen.

Oder nehmen wir den Pragmatismus. Wenn die Nützlichkeit einer Vorstellung das gesuchte Wahrheitskriterium sein soll, so müßten wir, um dieses Kriterium anwenden zu können, wissen, daß die Nützlichkeit das Kriterium der Wahrheit ist. Wir müßten also wissen, daß es nützlich ist, zu denken, daß das nützliche Denken das wahre ist, und dabei schon voraussetzen, daß die Nützlichkeit dieses Denkens ein Kriterium seiner Wahrheit ist. Wir erhalten also auch hier denselben Widerspruch. - Und so in jedem anderen Falle.2

Offenbar scheitert jede Wahrheitstheorie auf dem eigenen Prüfstand, da kein Wahrheitskriterium seine eigene Wahrheit garantieren kann. Man fühlt sich an Münchhausen erinnert, der sich am eigenen Schopf aus einem Sumpf zu ziehen versuchte.

Mit diesem Tatbestand hat sich auch Nelson nie abgefunden. Seiner Auffassung nach ist der Zirkel dem Umstand geschuldet, dass Erkenntnis gewöhnlich als etwas Urteilsmäßiges (etwa als Satz) angesehen wird. Jedes Urteil lässt sich auf andere Urteile zurückführen. Auf diese Weise entsteht ein Begründungsregess. Dieser ergibt sich auch beim Versuch ein - als Urteil vorliegendes - erkenntnistheoretisches Kriterium zu beweisen.

Nelsons Ausweg besteht darin, die Existenz einer nicht-urteilsmäßigen (unmittelbaren) Erkenntnis anzunehmen, welche den Grund für die Wahrheit von Urteilen enthält. Der Nachweis der Wahrheit (Verstandeswahrheit) von Erkenntnissen soll durch deren Rückführung auf unmittelbare Erkenntnisse erfolgen. Nelson meint, auf diese Weise den erkenntnistheoretischen Zirkel behoben zu haben. Denn er schreibt:

Das Wahrheitskriterium, dessen wir uns dabei bedienen, gibt nicht mehr Anlaß zu dem Widerspruch, den wir in dem Begriff des erkenntnistheoretischen Kriteriums gefunden haben. In der Tat: das Kriterium der Wahrheit der Urteile kann nicht selbst wieder ein Urteil sein, aber es braucht darum nicht außerhalb der Erkenntnis zu liegen; es liegt nämlich in der unmittelbaren Erkenntnis, die ihrerseits nicht wieder in Urteilen besteht.3

Hat Nelson die Zirkularität des Wahrheitskriteriums tatsächlich beseitigt?

Nelsons Wahrheitskriterium (KN) lässt sich folgendermaßen formulieren:

KN: .4

x: mittelbare (urteilsmäßige) Erkenntnis; y: unmittelbare (nicht-urteilsmäßige) Erkenntnis; V(x): x ist verstandeswahr; W(x,y): x wiederholt y; KN: nelsonsches Wahrheitskriterium

KN ist jedoch selbst ein Urteil, folglich eine mittelbare Erkenntnis. Deshalb ist auch das Nelsonsche Wahrheitskriterium zirkulär. Denn Nelson kommt nicht umhin - wenngleich er das Gegenteil behauptet -, seinem Wahrheitskriterium Urteilscharakter zuzuschreiben. Um KN zu begründen, hätte man eine unmittelbare Erkenntnis yN aufzuweisen, welche von KN wiederholt wird. Selbst wenn es gelänge, eine solche unmittelbare Erkenntnis aufzuweisen, müsste die Gültigkeit folgender Identität vorausgesetzt werden:

5.

Man hätte damit aber KN bereits vor seiner Prüfung auf Wahrheit angewendet. Auch Nelsons Lösungsversuch scheitert an der Unmöglichkeit, ein urteilsfreies Wahrheitskriterium zu formulieren.

Selbst wenn man eine unmittelbare Erkenntnis yN aufgewiesen hätte, müsste man einräumen, dass es sich hierbei um eine sehr sonderbare Erkenntnis handelt. Denn in yN - also in einer nicht-urteilsmäßigen Erkenntnis - wären bereits Informationen über die Wahrheit von Urteilen enthalten.

Zudem ist KN aufgrund seines Urteilscharakters mit dem Problem der Fehlbarkeit jeglicher mittelbarer Erkenntnis konfrontiert. Bereits Fries schenkt diesem Sachverhalt große Aufmerksamkeit. Er schreibt:

Aller Irrthum gehört also der wiederbeobachtenden Reflexion und nicht der unmittelbaren Erkenntniß, er liegt in Urtheilen, aber weder in Anschauungen noch in ursprünglichen Ueberzeugungen der Vernunft.6

Wenn es um die Begründung von Wahrheit geht, berufen sich Fries und Nelson auf den Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft (kurz: GSV). Diesen charakterisiert Nelson folgendermaßen:

Er ist der Ausdruck dafür, daß nicht sowohl die objektive Gültigkeit als vielmehr das Vertrauen auf die objektive Gültigkeit seiner Erkenntnis unserem Geiste ursprünglich innewohnt, wiefern er nämlich faktisch Erkenntnis besitzt, ein erkennender Geist ist.7

Gemäß diesem Zitat bezieht sich der GSV auf Vernunftwahrheit, nicht jedoch auf das Verhältnis von unmittelbarer und mittelbarer Erkenntnis (Verstandeswahrheit). Es bleibt offen, inwiefern der GSV die Wahrheit von KN absichert.

Nelson hat auf ein generelles Problem von Letztbegründungsversuchen hingewiesen. Das sogenannte friessche Trilemma stellt eine Neufassung von Nelsons Unmöglichkeitsbeweis dar. Poppers Lösung besteht im Verwerfen einer absolut sicheren Basis für wissenschaftliche Erkenntnis. Für ihn sind die Prüfinstanzen für wissenschaftliche Theorien die sogenannten Basissätze. Er kommt zum Schluss, dass wir niemals bei bestimmten ausgezeichneten Basisätzen stehen bleiben können. Denn jeder Basissatz kann durch andere Basissätze überprüft werden. Ein natürliches Ende wird dabei nicht erreicht. Seiner Auffassung nach werden die Basissätze "[...] durch Beschluß, durch Konvention anerkannt, sie sind Festsetzungen."8

Kay Herrmann, 14.10.2007


Abkürzungen

GSVGrundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft
AFSNFAbhandlungen der Fries'schen Schule. Neue Folge. 1906 - 1937.
Nelson, L.: GSNelson, L.: Gesammelte Schriften. Hg. von P. Bernays/ W. Eichler/ A. Gysin/ G. Heckmann/ G. Henry-Hermann/ F. v. Hippel/ S. Körner/ W. Kroebel/ G. Weisser. 9 Bde., Hamburg 1970 - 1977.
Fries, J. F.: WWFries, J. F.: Sämtliche Schriften. Nach den Ausgaben letzter Hand zusammengestellt, eingeleitet und mit einem Fries-Lexikon versehen von G. König/ L. Geldsetzer. (Bisher) 26 Bde., Aalen 1967 - 1997.

Literatur

Fries, J. F.: System der Logik. 3. Aufl., Heidelberg 1837 (WW 7, S. 153 - 632).

Nelson, L.: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. In: GS 2, S. 459 - 483.

Nelson, L.: Fortschritte und Rückschritte der Philosophie. Von Hume und Kant bis Hegel und Fries. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Julius Kraft. In: GS 7.

Popper, K: Logik der Forschung. 9. Aufl., Tübingen 1989.

Schmidt, A.: Der Beweisansatz von L. Nelson für die "Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie" als Beispiel eines retroflexiven Schlusses. In: Argumentationen. Festschrift für Josef König. Hg. von H. Delius/ G. Patzig. Göttingen 1964, S. 216 - 248.


Leonard Nelson (1882-1927)

Jakob Friedrich Fries (1773-1843)

Karl Popper (1902-1994)

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Noten:

1. Schmidt, A.: Der Beweisansatz von L. Nelson für die "Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie" als Beispiel eines retroflexiven Schlusses

2. Nelson: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie, S. 465 f.

3. Nelson: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie, S. 473.

4. KN: Eine mittelbare Erkenntnis x ist verstandeswahr genau dann, wenn es eine unmittelbare Erkenntnis y gibt, sodass y von KN wiederholt wird.

5. KN ist verstandeswahr genau dann, wenn es eine unmittelbare Erkenntnis y gibt, sodass y von KN wiederholt wird.

6. Fries: System der Logik, S. 341 (WW 7, S. 509).

7. Nelson: Fortschritte und Rückschritte der Philosophie, S. 630.

8. Popper: Logik der Forschung, S. 71.